letzte Aktualisierung am 4. Juli 2022 durch Redaktionsteam
Eines Tages verließ ein Indianer das Reservat (das Reservat ist ein Schutzgebiet für Indianer, in dem sie wie ihre Vorfahren frei leben können) und besuchte einen weißen Mann, mit dem er befreundet war.
In einer Stadt zu sein, mit all dem Lärm, den Autos und den vielen Menschen um sich – all dies war ganz neuartig und auch ein wenig verwirrend für den Indianer.
Die beiden Männer gingen die Straße entlang, als plötzlich der Indianer seinem Freund auf die Schulter tippte und ruhig sagte: »Bleib einmal stehen. Hörst du auch, was ich höre?«
Der weiße Freund des roten Mannes horchte, lächelte und sagte dann:
»Alles was ich höre, ist das Hupen der Autos und das Rattern der Omnibusse. Und dann freilich auch die Stimmen und die Schritte der vielen Menschen. Was hörst du denn?« »Ich höre ganz in der Nähe eine Grille zirpen«, antwortete der Indianer.
Wieder horchte der weiße Mann. Er schüttelte den Kopf. »Du mußt dich täuschen«, meinte er dann, »hier gibt es keine Grillen. Und selbst wenn es hier irgendwo eine Grille gäbe, würde man doch ihr Zirpen bei dem Lärm, den die Autos machen, nicht hören.«
Der Indianer ging ein paar Schritte. Vor einer Hauswand blieb er stehen. Wilder Wein rankte an der Mauer. Er schob die Blätter auseinander, und da -sehr zum Erstaunen des weißen Mannes -saß tatsächlich eine Grille, die laut zirpte.
Nun, da der weiße Mann die Grille sehen konnte, fiel auch ihm das Geräusch auf, das sie von sich gab. Als sie weitergegangen waren, sagte der Weiße nach einer Weile zu seinem Freund, dem Indianer: »Natürlich hast du die Grille hören können.
Dein Gehör ist eben besser geschult als meines. Indianer können besser hören als Weiße.« Der Indianer lächelte, schüttelte den Kopf und erwiderte: »Da täuscht du dich, mein Freund. Das Gehör eines Indianers ist nicht besser und nicht schlechter als das eines weißen Mannes. Pass auf, ich will es dir beweisen.«
Er griff in die Tasche, holte ein 50-Cent-Stück hervor und warf es auf das Pflaster. Es klimperte auf dem Asphalt, und Leute, die mehrere Meter von dem weißen und dem roten Mann entfernt gingen, wurden auf das Geräusch aufmerksam und sahen sich um. Endlich hob einer das Geldstück auf, steckte es ein und ging seines Weges.
»Siehst du«, sagte der Indianer zu seinem Freund, »das Geräusch, das das 50-Cent-Stück gemacht hat, war nicht lauter als das der Grille, und doch hörten es viele der weißen Männer und drehten sich danach um, während das Geräusch der Grille niemand hörte außer mir.
Der Grund dafür liegt nicht darin, dass das Gehör der Indianer besser ist. Der Grund liegt darin, daß wir alle stets das gut hören, worauf wir zu achten gewohnt sind.«
Autor:
Hans Christian Kirsch, alias Frederik Hetmann (geb. 17.2.1934, Wroclaw (Polen) gest. am 1.6. 2006 in Limburg/ Lahn